„Erst die Bundesliga hat den Fußball so in den Mittelpunkt gerückt“
Als Mann der ersten Stunde stand Wolfgang Overath beim Bundesliga-Start vor 60 Jahren auf dem Platz, wurde in der Premierensaison mit dem 1. FC Köln Deutscher Meister. Vor seinem 80. Geburtstag am 29. September erinnert sich der Weltmeister von 1974 an die Entwicklung des deutschen Profifußballs in den ersten Jahren.
Interview: Michael Novak
Herr Overath, Sie waren, 19 Jahre jung, einer von 176 Spielern in damals 16 Mannschaften, als die Bundesliga am 24. August 1963 laufen lernte. Wie erinnern Sie sich an Ihre Premiere mit dem 1. FC Köln beim 1. FC Saarbrücken?
WOLFGANG OVERATH: Wir haben 2:0 gewonnen, mir ist das 1:0 gelungen, nach Doppelpass mit Hans Schäfer, dem Weltmeister von 1954. Noch mehr ist mir aus den Bundesliga-Anfängen aber im Gedächtnis geblieben, dass der Fußball plötzlich ganz anders dargestellt wurde. Dass zum Beispiel Zeitungen tagtäglich über die neue Spielklasse berichteten. Erst die Bundesliga hat den Fußball in unserem Land so in den Mittelpunkt gerückt. Ihre Gründung war der entscheidende Schritt auf diesem guten Weg. Denn die Begeisterung für die Bundesliga ist bis heute unverändert riesig.
Waren Sie vorbereitet auf dieses Neuland?
OVERATH: Von Profifußball hatte ich null Ahnung. Als aber das Angebot vom FC kam, waren damit alle anderen Anfragen für mich nicht mehr interessant. Denn früher ist man zu einem Verein gegangen, den man liebte und über den man sagte: Das ist mein Verein. Das geht inzwischen leider nicht mehr! Heute ist Fußballprofi eher wie ein Job in anderen Berufen – das ist überhaupt nicht negativ gemeint, gar kein Vorwurf an die jetzige Spielergeneration! Es ist einfach der Lauf der Zeit.
Ihre neue Beziehung begann mit „Liebesentzug“.
OVERATH: Mit einer einjährigen Sperre. Ein Paragraf zum Schutz der Amateure sah das nach dem Wechsel zu einem Vertragsspielerverein so vor. In der kompletten Saison vor dem Bundesliga-Start durfte ich kein Pflichtspiel absolvieren, nur trainieren mit den FC-Größen um Hans Schäfer. Nie hätte ich gedacht, nach einer so langen Zwangspause gleich einen Platz in der Mannschaft zu bekommen. Aber dann wurde ich in Saarbrücken ins kalte Wasser geworfen.
Der „kicker“ schrieb: „Der junge Overath muss sich noch ein wenig einleben.“
OVERATH: Aber trotz der Pause habe ich dann in der ersten Bundesliga-Saison alle 30 Spiele absolviert. Damals musste die Anfangself 90 Minuten durchhalten, weil bis 1967 keine Auswechslungen erlaubt waren, nicht mal bei Verletzungen. Weil es gut lief und mir weitere Tore gelangen, kam bald die Einladung von Bundestrainer Seppl Herberger zu meinem ersten Länderspiel nur einen Monat nach dem Bundesliga-Debüt.
Was bedeutete Ihr schneller Aufstieg außerdem?
OVERATH: Die Bundesliga hat Spieler erst richtig nach vorn gebracht und geprägt, sodass sie sich in ihrer Persönlichkeit viel besser entwickeln konnten als zuvor. Bis dahin war über die fünf Oberligen als höchste Spielklassen wenig bekannt. Dagegen hat die Bundesliga den Fußball für die gesamte Bundesrepublik interessant gemacht, auch die Nationalmannschaft profitierte davon. Meiner Meinung nach hatten wir bei den Weltmeisterschaften 1966, 1970 und 1974 die beste Zeit unserer Nationalmannschaft überhaupt – mit der Vizeweltmeisterschaft in England, Platz drei in Mexiko und dem Titelgewinn bei der Heim-WM.
Wer war Ihr persönlicher Topstar?
OVERATH: Bis zum heutigen Tag ist Franz Beckenbauer für mich das Gesicht und die überragende Persönlichkeit der Bundesliga – nicht nur als Mensch, sondern als bei Weitem bester Spieler, den wir je in Deutschland hatten. Franz konnte in seiner Leichtigkeit, mit der er spielte, einfach alles: Er war schnell, konnte dribbeln, schießen, konnte Kopfbälle, bei denen ich mich am liebsten rausgehalten habe. Auch Fritz Walter war überragend, aber seine Leistungen vor der Bundesliga-Gründung lassen sich schwer mit späteren Zeiten vergleichen.
Anders als Fritz Walter spielten drei andere 1954er-Weltmeister noch in der Bundesliga: Max Morlock beim 1. FC Nürnberg, Helmut Rahn beim Meidericher SV, heute MSV Duisburg, und eben Hans Schäfer. Wie fühlte sich Talent Overath neben seinem Idol?
OVERATH: Hans Schäfer war der große Spieler des FC, Kapitän und Macher, ein feiner Mensch. Er hat mir sehr geholfen, eher unbewusst. Besonders gekümmert hat er sich nicht um mich, was auch nicht notwendig war, weil ich früh selbstständig meinen eigenen Weg gefunden habe. Aber von einem so großartigen Fußballer konnte ich natürlich viel lernen: zum Beispiel wie raffiniert er schon im Training den Ball abschirmte. Ihm habe ich viel zu verdanken, aber auch anderen FC-Spielern dieser Zeit.
1963/64 gewannen Sie zusammen gleich die Deutsche Meisterschaft.
OVERTAH: Damals war der FC vergleichbar mit den heutigen Bayern. Vor allem weil wir mit Franz Kremer den größten Präsidenten der Vereinsgeschichte hatten. Er war engagierter Befürworter der Bundesliga-Gründung und jemand, der den Profifußball in Deutschland sehr positiv beeinflusst hat. Seine Impulse führten dazu, dass der FC im beginnenden Bundesliga-Zeitalter die Führungsposition innehatte.
Was zeichnete „Boss“ Kremer aus?
OVERATH: Was er anpackte, machte er clever. In vielen Dingen war Franz Kremer seiner Zeit voraus. Ohne ihn wäre ich vielleicht gar nicht zum FC gekommen, bei dem ich dann aber happy war mit meinem ersten Vertrag: 1.200 D-Mark monatliches Grundgehalt, was damals viel Geld war, 250 Siegprämie, dazu gab es 5.000 D-Mark und einen alten Karmann-Ghia. Beim FC stand Franz Kremer über allem, und seine Worte waren immer klar. Auch als ich mein Auto – natürlich versehentlich – auf dem für ihn reservierten Parkplatz am Geißbockheim abgestellt hatte. Seine Ansage auf dem Trainingsplatz fiel kurz aus: „Da stehst du nicht mehr!“
Wie sah der Vorsprung des „Real Madrid vom Rhein“ getauften Clubs gegenüber Konkurrenten aus?
OVERATH: Etwas Besonderes nach außen waren unsere weißen Trikots, aus Seide und in Paris bei Dior produziert. Wichtiger war aber, dass der FC am Geißbockheim schon ein tolles, modernes Trainingsgelände besaß. Auch dafür hatte Franz Kremer gesorgt. Da konnte kein anderer Bundesliga-Verein mithalten.
Warum holte der Club mit besten Voraussetzungen anfangs nur einen Titel?
OVERATH: Tatsächlich haben wir auf Dauer zu wenig daraus gemacht. Ein Grund war sicher der frühe Tod von Franz Kremer 1967 mit nur 62 Jahren. In der ersten Saison haben wir die Bundesliga klar dominiert, waren auch in der zweiten noch mit führend, wurden aber nur Vizemeister hinter Werder Bremen. In den folgenden Jahren blieben wir immer weiter oben dabei, haben sogar ganz gut verkraftet, dass Hans Schäfer seine Karriere 1965 beendete. Aber uns fehlte Stabilität. Trotzdem waren wir immer in der Lage, auch die Bayern und Gladbach als bald nach ihrem gemeinsamen Aufstieg von 1965 beste und führende Mannschaften zu besiegen. Vielleicht fehlte uns Franz Kremer tatsächlich als Persönlichkeit, die alles zusammengehalten hat.
1969 drohte dem 1. FC Köln der Abstieg, der auch für Sie persönlich wohl Veränderung bedeutet hätte.
OVERATH: Als es bis zur Rettung am letzten Spieltag gegen den 1. FC Nürnberg dem Abstieg entgegenging, gab es viele Anfragen anderer Clubs. Im Innersten war es aber immer mein Wunsch, in Köln zu bleiben. Zumal ich in meiner Familie ein – in Anführungszeichen – Problem hatte, denn meine Frau war und ist sehr heimatverbunden. Auch als mir nach meinem FC-Abschied von den Chicago Stings sehr viel Geld geboten wurde, hätte ich ohne Familie in die USA gehen müssen – und habe deshalb abgesagt. Zu Hause ist man zu Hause. Rückblickend war das die richtige Entscheidung.
Früher wie heute: Der Traum vom Fußballprofi wurde und wird nur für wenige wahr. Zur Absicherung sind in den Leistungszentren der Clubs nun schulische und berufliche Ausbildung obligatorisch. Haben Sie beim Verzicht aufs Abitur das Risiko einfach ausgeblendet?
OVERATH: Bei mir gab es keinen Gedanken daran, dass etwa ein Kreuzbandriss das schnelle Aus hätte bedeuten können. Mein Vater jedoch, der zwei Weltkriege erleben musste, hatte andere Vorstellungen: Abitur machen, vernünftigen Beruf erlernen! Und dann erzähle ich ihm plötzlich von meiner Vertragsunterschrift beim FC: zu all seinen Nöten nun noch Sorgen um meine Zukunft! Dem ältesten von acht Kindern, meinem nach unserem Vater benannten, aber im Krieg gefallenen Bruder Heinz, wurde das Abitur ermöglicht. Und auch für mich als Jüngsten brachten unsere Eltern, die Großes geleistet haben, das Schulgeld von monatlich zehn D-Mark fürs Gymnasium auf, was sie finanziell unerhört belastet hat.
Als aber das Angebot vom FC kam, waren damit alle anderen Anfragen für mich nicht mehr interessant.
Wolfgang Overath über seinen Start in den Profifußball mit dem 1. FC Köln
Solche Bedenken konnten Sie, wenn Sie vor Ihrem 80. Geburtstag am 29. September zurückblicken, irgendwann nachvollziehen?
OVERATH: Beruhigen konnte ich meinen Vater erst Jahre später. Als ich ihm einige Objekte zeigte, die ich schon sehr früh gebaut hatte, fiel ihm ein Stein vom Herzen, sind ihm Tränen der Erleichterung gekommen. Das vergesse ich nie! Genauso weiß ich heute noch, wie die Welt bei uns zu Hause aussah. Das Glück zu spüren, das Leben auf der Sonnenseite verbracht zu haben, bringt mir das Gefühl: Da gibt es ganz oben jemanden, an den ich glaube. Und ich bete jeden Abend und sage: Vielen Dank!
Dafür, dass der Schritt in das unbekannte Abenteuer Bundesliga vor 60 Jahren richtig war?
OVERATH: Im Nachhinein war es das Beste, was mir passieren konnte. Meinen Weg hätte ich auch ohne Profifußball gefunden, er wäre aber wahrscheinlich völlig anders verlaufen. Der Fußball hat mir alle Türen geöffnet! Und mir die Möglichkeit gegeben, mein größtes Hobby ab dem Start der Bundesliga zu meinem Beruf zu machen.
Herr Overath, vielen Dank für dieses Gespräch.
Der Autor: Michael Novak war langjähriger Chefredakteur des BUNDESLIGA MAGAZINs (heute DFL MAGAZIN) und Leiter PR der DFL.