Wirkung über den Sport hinaus

Der deutsche Profifußball feiert historische Erfolge. Zugleich stellen sich DFL und Clubs auf vielfältige Weise verstärkt ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Die Bundesliga-Spielzeiten 2013/14 bis 2022/23.

Text: Marcel Reif

Als in den Jahren 2015 und 2016 mehr als eine Million Menschen nach Deutschland fliehen mussten, sind viele Tausende von ihnen auch am Münchner Hauptbahnhof angekommen. Ich bin häufig dort, fahre viel Bahn. Ich stehe also eines Tages am Gleis und sehe, wie viele Münchner dort warten, mit etwas Essen, mit vollgepackten Tüten, eine Schlange bilden, um alles durchreichen zu können. Und dann kommen da Menschen aus den Zügen, Menschen, die erkennbar viel durchgemacht haben. Da hatte ich Tränen in den Augen. Diese Solidarität, diese wunderbare Regung von „Wir schaffen das“, das hat mich tief berührt.

Mein Vater hat den Holocaust überlebt. Unsere Familiengeschichte ist von Fassungslosigkeit geprägt, vom Entsetzen darüber, was Menschen anderen Menschen antun können. Auch aus Frust, aus Angst vor den und dem Anderen.

Die DFL, die Clubs und deren Spieler setzen Zeichen für Frieden und gegen den Krieg in der Ukraine.
Foto: DFL/Getty Images/Boris Streubel

Auch jetzt, mit allen, die der Krieg aus der Ukraine zu uns getrieben hat, ist es am wichtigsten, Misstrauen und Ängste abzubauen und solidarisch zu sein. Neben den Hilfs- und Spendenaktionen, die auch von der DFL, der DFL Stiftung und den Clubs der Bundesliga und 2. Bundesliga ausgegangen sind, hat der Fußball an sehr vielen Orten sehr viel Gutes getan, damals und heute. Überall in Deutschland gab und gibt es die Überlegung: „Wie können wir helfen?“ Die Antwort klingt oft einfach – wir öffnen uns und lassen „die Fremden“ mitmachen. In der Gesellschaft und beim Fußball.

So wie es die Menschen mit mir gemacht haben, als ich 1958 als Achtjähriger nach Kaiserslautern kam, nach einer Reise aus Polen über Israel. Ich konnte so gut wie kein Deutsch. Meine Mutter hat mich zum Fußball angemeldet, weil ich ganz gut kicken konnte. In der Jugend beim 1. FC Kaiserslautern habe ich dann die Sprache gelernt. Erst mit den Beinen, dann mit dem Herzen – und schneller, als man es sich vorstellen kann, sprach ich auch Deutsch.

Das ist keine Flüchtlingsgeschichte, es zeigt aber, wie wichtig es ist, zu erkennen, dass hinter jedem Schicksal auch ein Mensch steckt, nicht Flüchtling.

Bei Projekten wie „Willkommen im Fußball“, 2015 von der DFL Stiftung initiiert und unterstützt, funktionierte das so hervorragend, weil den Menschen bei diesem Angebot gezeigt wurde, dass sie im Fußball, also bei uns, willkommen sind – einfach nur weil sie mitkicken durften. Seit ihrer Gründung 2008 engagiert sich die DFL Stiftung daher auch verstärkt in den Teilbereichen Integration und Teilhabe.

Warum erzähle ich das alles? Weil es eben doch nicht mehr so einfach ist. Die Welt ist in diesem Jahrzehnt noch komplexer und komplizierter geworden, und jeder Einzelne ist stärker gefordert. Auch – und vielleicht: besonders! – der Fußball, mit seiner Wirkungsmacht in unserer Gesellschaft. Vor allem während der Coronazeit ist das deutlich geworden.

Nach dem Restart des deutschen Profifußballs fanden zahlreiche Spiele vor deutlich reduzierter Zuschauerzahl oder sogar ganz ohne Fans in den Stadien statt – wie hier beim Spiel RB Leipzig gegen Borussia Dortmund am 33. Spieltag der Saison 2019/20.
Foto: DFL/Getty Images/Boris Streubel

Deutschland ist ein Fußballland, dieser Sport ist hier wichtig, er hat seine Rolle, und die hat er mit den Möglichkeiten, die ihm Anfang 2020, mit dem Ausbruch der Pandemie, zur Verfügung standen, bestmöglich erfüllt.

Es war ja eine Zeit, die durch viele verschiedene Ängste geprägt war. Und dann hockte man auch noch zu Hause und dachte: Ich werde verrückt. Als der Spielbetrieb in der Bundesliga und der 2. Bundesliga dann am 16. Mai 2020 wieder aufgenommen wurde, war man froh, dass man sich mal wieder für ein paar Stunden mit der Dreierkette beschäftigen konnte. Der deutsche Profifußball hat in dieser Zeit also beispielgebend gut gehandelt. Das führte wenige Monate später zu einem der größten sportlichen Erfolge dieses Jahrzehnts: dem zweiten „Triple“ in der Geschichte des FC Bayern München aus Deutscher Meisterschaft, DFB-Pokal und UEFA Champions League.

Mit dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft, des DFB-Pokals und der UEFA Champions League gelang es dem FC Bayern München in der Saison 2019/20 zum zweiten Mal in seiner Vereinsgeschichte das „Triple“ zu holen.
Foto: DFL/Getty Images/Matthias Hangst

Diese Zwangsläufigkeit, mit der die Bayern im August 2020 beim Finalturnier in Lissabon den FC Barcelona im Viertelfinale mit 8:2 besiegten, habe ich in meinen 30 Jahren als Fußballkommentator selten erlebt. 2014, bei der Weltmeisterschaft in Brasilien, war das aber sehr ähnlich. Die deutsche Nationalmannschaft erreichte im Laufe des Turniers eine Selbstgewissheit, dass man das Gefühl hatte: Die werden den Titel holen. Vor allem die damaligen Bayern-Spieler um Toni Kroos, Philipp Lahm, Thomas Müller und Bastian Schweinsteiger. Das lag auch daran, dass sie ein Jahr vor der WM Pep Guardiola als Trainer bekommen hatten. Ich bin mir sicher, dass er mit seiner Art die Grundlage dafür legte, dass der FC Bayern zu dem „Erfolgsmonster“ dieses Jahrzehnts werden konnte.

In Brasilien passte aber ohnehin alles. Es gab niemanden im Team, der Probleme hatte oder machte, keine Störfaktoren. So ein Momentum lässt sich nicht planen, nur zerstören. Dem Druck musst du dann auch noch standhalten. Die Brasilianer sind ja beim 1:7 im Halbfinale gegen die Deutschen unter der Last zusammengebrochen, weil sie das Volk, das Land, alles mit dem WM-Titel retten sollten. Borussia Dortmund muss den 1. FSV Mainz 05 am letzten Spieltag der abgeschlossenen Saison auch nur 1:0 besiegen, um Deutscher Meister zu werden. Aber nein, es musste für die Stadt, für den Club, für die Liga, für alle sein. Das ist für junge Menschen eine Menge und zu viel. Am Ende feiern die Bayern ihre elfte Meisterschaft in Folge.

Es ist dann eben nicht nur Fußball, sondern doch viel mehr. Deswegen war es für mich keine Frage, 2017 zunächst im Kuratorium der DFL Stiftung mitzumachen und 2019 den Vorsitz zu übernehmen. Ich möchte die Breitenwirkung des deutschen Profifußballs nutzen, um, über das Sportliche hinaus, Dinge vielleicht ein bisschen in die richtige Richtung mitbewegen zu können. So wie es der Fußball in diesem Jahrzehnt mit seinem Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus tut. Mit der Initiative „Strich durch Vorurteile“ oder den Aktionen rund um „!Nie wieder“ zum Erinnerungstag im deutschen Profifußball. Nicht zu wenig, nicht zu viel, nicht zu aufgesetzt. Diese Aktionen passieren mit Augenmaß und sind in einer Zeit, in der sich die Menschen fragen, welche Herausforderungen sie noch bewältigen müssen, richtungsweisend.

Seit 2004 beteiligen sich die DFL und die Clubs der Bundesliga und 2. Bundesliga an der Initiative „!Nie Wieder“, die rund um den 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, den Opfern des Nationalsozialismus gedenkt.
Foto: DFL/Getty Images/Sebastian Widmann

Es ist daher gut, richtig und wichtig, dass die 36 Clubs in der Phase Ende 2021 entschieden haben, Nachhaltigkeitskriterien in die DFL-Statuen zu schreiben. Es werden Themen angefasst, die uns alle beschäftigen, und vor allem junge Menschen. Und die werden wir brauchen, damit weiter Fußball gespielt werden kann. Und das sollte es, auch und vor allem in der Bundesliga und 2. Bundesliga.

Denn es gibt sie weiterhin, die Geschichten, in denen Clubs Dinge leisten, von denen niemand zu träumen gewagt hätte. Der 1. FC Union Berlin mit der Qualifikation zur Champions League in der abgelaufenen Saison, der Sport-Club Freiburg mit seiner Entwicklung zu einem Club, der jedes Jahr europäisch spielen kann, oder die Eintracht aus Frankfurt, die 2018 den DFB-Pokal und 2022 sensationell die UEFA Europa League gewann. Neuestes Beispiel: der 1. FC Heidenheim 1846 als überraschender Aufsteiger 2023 und damit 57. Bundesliga-Mitglied seit 1963. Es ist schön, dass solche „Märchen“ immer noch Realität werden.


Der Autor: Marcel Reif (73) begleitete den deutschen Profifußball 30 Jahre als Kommentator. Ab 1986 zunächst im ZDF, später bei RTL, Premiere beziehungsweise Sky. 2016 beendete er seine berufliche Karriere. Heute tritt er unter anderem als Experte bei BILD TV und im Schweizer Fernsehen auf, außerdem ist er Kuratoriumsvorsitzender der DFL Stiftung.