Zeichen der Zukunft
Aus der Krise erwächst die Chance: In ihrer dritten Dekade spürt die höchste deutsche Spielklasse den gesellschaftlichen Wandel und die Umbrüche einer neuen Zeit. Das fordert sie heraus, aber sie schafft es, damit umzugehen. Die Bundesliga-Spielzeiten 1983/84 bis 1992/93.
Text: Harald Pistorius
Helmut Benthaus steht an der Seitenlinie im Bremer Weserstadion, es ist der vorletzte Spieltag der Saison 1983/84, und seine Mannschaft führt mit 2:1, als ein Reporter den Trainer des VfB Stuttgart auf einen Zwischenstand hinweist: Der zuvor punktgleiche Rivale vom Hamburger SV liegt gegen den Abstiegskandidaten Eintracht Frankfurt 0:2 zurück. „…dann sind wir ja Meister!“, ruft Benthaus ungläubig.
Minuten später ist Schluss, Benthaus stürmt den Rasen. Die Bundesliga hat ihren ersten Überraschungsmeister seit dem Triumph des 1. FC Nürnberg 1967/68. Der VfB gewinnt den Titel zum ersten Mal seit 32 Jahren – und das Fernsehen liefert die packenden Bilder. Kamerateams fangen die Eindrücke des Jubels hautnah ein.
Immer selbstverständlicher gehören die TV-Teams an den Spieltagen dazu. Field-Reporter der ersten Stunde führen nach großen Siegen Interviews gleich nach dem Abpfiff, fangen Emotionen ein. Noch sind es die öffentlich-rechtlichen Sender. Sie geben den Ton vor, in den am Ende dieses Jahrzehnts die neuen Player auf dem Fernsehmarkt einstimmen werden.
Die erste Live-Übertragung wird durch eine Laune des Zufalls begünstigt
Als am 11. Dezember 1984 die ARD das erste Bundesliga-Spiel bundesweit live überträgt, ist das noch eine Laune des Zufalls: Das Topduell zwischen Borussia Mönchengladbach und dem FC Bayern München (3:2) findet als singuläre Nachholbegegnung statt, weil die Borussen nach einem Europapokalspiel im polnischen Lodz wegen Nebels drei Tage nicht zurückfliegen konnten und die Partie gegen die Bayern abgesetzt worden war. Die ARD sichert sich das Übertragungsrecht für diese Premiere. Die Fußballnation staunt, genießt – und will mehr davon.
Eineinhalb Jahre später sind an den Fernsehgeräten 1,1 Millionen bundesdeutscher Haushalte live beim Gipfeltreffen zwischen dem SV Werder Bremen und dem FC Bayern München dabei. Ganz Deutschland spricht über den Coup des Privatsenders SAT.1, der eines der legendärsten Spiele der Bundesliga-Geschichte überträgt.
Kurz vor Schluss scheint es, als könne Werder Bremen den ersten Titelgewinn seit 1965 einfahren. Doch Michael Kutzop leistet sich am 33. Spieltag beim Stand von 0:0 gegen die Bayern einen Fehlschuss, der Ball klatscht an den Pfosten. „Dieses Scheißgeräusch vergesse ich nie“, sagt Kutzop. Anschließend nutzen die Bayern diese Steilvorlage, weil die Bremer in Stuttgart verlieren, und setzen sich am letzten Spieltag an die Tabellenspitze – zum ersten Mal überhaupt in der Saison 1985/86.
Dramatische Entscheidungen im Kampf um die Meisterschaft
Es war eine von sechs Titelentscheidungen dieser Dekade, die erst am letzten Spieltag fielen. Die Bayern verbuchten zwar den zweiten Titel-Hattrick (1985, 1986, 1987) ihrer Clubhistorie sowie zwei weitere Meisterschaften (1989, 1990). Doch der VfB Stuttgart (1984, 1992), der SV Werder (1988, 1993) und der 1. FC Kaiserslautern (1991) sorgten für Abwechslung.
In der Saison mit einem der spannendsten Finale waren die Münchner allerdings nicht nur außen vor im Titelkampf, sondern sogar phasenweise in die Nähe der Abstiegszone geraten. Am 16. Mai 1992 gingen Borussia Dortmund (Tordifferenz: +18), der VfB Stuttgart (+29) und die favorisierte Eintracht aus Frankfurt (+36) punktgleich in den letzten Spieltag. Die Hessen scheiterten an der vermeintlich leichtesten Aufgabe und verloren 1:2 beim F.C. Hansa Rostock; der VfB ging nach Guido Buchwalds Tor zum 2:1 kurz vor Schluss in Leverkusen durch die geöffnete Tür zur Übergabe der Meisterschale, Dortmund half das 1:0 in Duisburg nicht. In Rostock sagte Eintracht-Trainer Dragoslav Stepanovic einen unvergesslichen Satz: „Lebbe geht weider“.
Es war der letzte Spieltag des Privatsenders RTLplus, der sich nach vier Jahren von der Bundesliga verabschiedete, SAT.1 übernahm. Das Team um Rein- hold Beckmann läutete eine neue Ära des Fernsehfußballs ein und schuf mit „ran“ eine populäre Marke. Trotz – oder sogar wegen – einiger Ausschläge ins Unterhaltungssegment: So traten unter anderem Popstars wie Rod Stewart im Studio auf.
Der Bundesliga taten die geballte Aufmerksamkeit und die kräftige Prise Glamour in der TV-Berichterstattung gut. Schon am 2. März 1991 hatte der Sender Premiere (heute Sky) durch seinen Einstieg mit dem ersten „Topspiel der Woche“ zwischen Eintracht Frankfurt und dem 1. FC Kaiserslautern einen weiteren Meilenstein in der Fernsehgeschichte der Bundesliga gesetzt. Immer mehr Menschen, vor allem jüngere, wandten sich dem Fußball zu, die Zuschauerzahlen stiegen ab 1989/90 kontinuierlich, überschritten 1990/91 erstmals seit 1982/83 die Marke 20.000 pro Spiel und waren 1992/93 mit einem Schnitt von 24.173 so hoch wie zuvor fünfzehn Jahre nicht mehr.
Das Geschenk der Wiedervereinigung
Eigene Stars musste die Bundesliga in den Jahren zuvor ziehen lassen – bevorzugt über den Brenner, nach Italien, damals das „gelobte Land“ des Fußballs. Hansi Müller war 1982 der erste Auswanderer dieser Zeit, es folgten bis 1992 weitere 16 Nationalspieler, die ihren Clubs oft Millionen-Ablösen einbrachten; darunter Weltklassekönner wie Andreas Brehme, Thomas Häßler, Jürgen Klinsmann, Jürgen Kohler, Lothar Matthäus, Karl- Heinz Rummenigge, Rudi Völler.
Doch es kamen andere Klasse-Spieler aus einem neuen, alten Teil Deutschlands, der auch die Bundesliga vergrößerte. Dabei hatte der 33. Bundestag des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) im Herbst 1989 per Beschluss gerade erst die Reduzierung der Bundesliga von 18 auf 16 Clubs (wie zuvor nur in den beiden ersten Spielzeiten 1963/64 und 1964/65) ab Sommer 1991 auf den Weg gebracht, als das Geschenk der Wiedervereinigung auch den deutschen Fußball bereicherte. Nach der Formel „2+6“ wurden in der Saison 1991/92 zwei Vereine der DDR-Oberliga – F.C. Hansa Rostock und die SG Dynamo Dresden – in die um zwei Mitglieder auf 20 aufgestockte Bundesliga aufgenommen; sechs Clubs reihten sich in die 2. Bundesliga mit dann 24 Clubs ein.
Erste Schritte auf dem Weg zur Selbständigkeit des deutschen Profifußballs
Manchmal begann der Umbruch unauffällig: Als der DFB-Ligaausschuss, in dem sich die Vertreter der Proficlubs für deren Interessen einsetzten, 1989 mit seinem kühnen Reformvorschlag im DFB-Beirat scheiterte, Hin- und Rückspiele innerhalb einer Woche auszutragen, war dies das erste Signal auf dem Weg zur Eigenständigkeit des Profifußballs, die elf Jahre später mit der Gründung des Ligaverbandes (2000) und der DFL (2001) Realität wurde.
Ein weiteres Thema rückte auch in Deutschland ins Blickfeld: das Hooligan-Problem rund um Fußballspiele, das Clubs und Verbände herausforderte. Zu dessen Lösung trug 1993 das „Nationale Konzept Sport und Sicherheit“ (NKSS) bei; es steckte den Rahmen für die Sozialarbeit mit jugendlichen Fans ab. Mit der Gründung der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) bei der Deutschen Sportjugend wurde ab 1993 die Installierung solcher Einrichtungen an den Standorten des Profifußballs forciert.
Insgesamt schlug dieser Anfang der 1990er Jahre den Weg ein zur gesellschaftlichen Institution, die Bundesliga wurde zu einem Thema für alle und übernahm auch gesellschaftliche Verantwortung. Als die Politik 1992 angesichts ausländerfeindlicher Ausschreitungen in mehreren deutschen Städten die Bundesliga um Unterstützung bei der Verbreitung wichtiger Botschaften bat, liefen am 11./12. Dezember 1992 in einer vielbeachteten Aktion alle 18 Bundesliga-Teams mit dem einheitlichen Schriftzug „Mein Freund ist Ausländer“ anstelle ihrer sonstigen Trikotwerbung auf.
Der Autor: Harald Pistorius war leitender Sport-Redakteur bei der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ und berichtete jahrzehntelang über Clubs der Bundesliga und 2. Bundesliga.