„Das Erzählen ist das, was mir Kraft gibt“
Über den Horror des Holocausts, das Erinnern und die Hoffnung: Drei Überlebende berichten.
Text: Ofer Waldman
Dieser Artikel ist für die Ausgabe 1|25 von BUNDESLIGA entstanden, das Heft erscheint am 28. Februar. Zum Erinnerungsspieltag im deutschen Fußball veröffentlichen wir ihn bereits vorab auf dfl.de.
31.01.2025 – Bnei Berak, ein Vorort von Tel Aviv, an einem hellen Wintertag in Israel. Im dritten Stock eines Hinterhauses setzt sich die 89-jährige Mirjam Szpiro Bait Talmi mit der vertrauten Vorsicht eines älteren Menschen auf einen Stuhl, vor ihr zwei Videokameras. Neben den Kameras sitzt der 50 Jahre jüngere Daniel Lörcher aus Dortmund. Er spricht sie sanft an, „Mirjam,“ fragt er, dem allisraelischen Brauch des Duzens treu, „brauchst du noch irgendwas, bevor das Interview beginnt?“ Mirjams Gesicht öffnet sich zu einem dankbaren Lächeln. „Wie du meinen Namen aussprichst“, sagt sie. „Du sprichst es deutsch aus, das hat sonst nur meine Schwester getan.“ Ihre Augen glänzen. Als das Interview beginnt, lautet die erste Frage, wie Mirjams Leben vor dem Krieg aussah. Sie fragt: „Welchen Krieg genau meinst du denn?“
Vergangenheit und Gegenwart treffen sich unmittelbar, in der Geschichte von Mirjam, der Holocaustüberlebenden, die nach dem Massaker des 7. Oktober 2023 aus ihrem Haus im Kibbuz Zikim fliehen musste. Und auch in der Geschichte Oranit Wieners und Daniel Lörchers. Wiener ist die Vize-Generaldirektorin des World Jewish Congress in Israel und begleitet das Interview. Lörcher, Mitgründer und Geschäftsführer der NGO „what matters“und Antidiskriminierungsbeauftragter bei Borussia Dortmund, koordiniert seit jenem 7. Oktober Solidaritätsaktionen mit den Überlebenden und Opfern des Massakers.
An diesem Tag sprechen drei Holocaustüberlebende anlässlich des 21. Erinnerungstags im deutschen Fußball vor den Kameras. Nach Mirjam Szipro Bait Talmi, geboren 1935 in Duisburg, werden auch Naftali Fürst, geboren 1932 in Bratislava, und Susanne Ruth Raweh, geboren 1938 in Bukarest, interviewt. Am 27. Januar 2025 jährte sich die Befreiung des Todeslagers Auschwitz zum 80. Mal. In allen drei Interviews, in denen die Holocaustüberlebenden ihre Geschichten erzählen, geht es auch um die Frage: Was bedeutet die Erinnerung an die Schoah, an den Holocaust, nun 80 Jahre später, in einer durch Krieg, Gewalt und politischen Extremismus gezeichneten Gegenwart?
„Mirjam Szpiro Bait Talmi. So heiße ich.“
Mirjam erzählt, sie wohne mittlerweile wieder im Kibbuz Zikim, rund zwei Kilometer von der Grenze zu Gaza. „12 Sekunden haben wir“, erzählt sie, „um den Bunker zu erreichen, wenn Raketenalarm ertönt.“ Am 7. Oktober 2023 musste sie erneut ihr Haus verlassen. Wieder Flüchtling – nicht zum ersten Mal in ihrem Leben.
Auf Englisch, mit einem hörbaren britischen Akzent – ein Andenken an ihre Rettung durch einen Kindertransport, der sie aus Nazideutschland über die Niederlande für viele Jahre nach Großbritannien brachte – erzählt Mirjam ihre Überlebensgeschichte. Geboren wurde sie 1935 in Duisburg-Hamborn, in einer armen jüdischen Familie. Die frühesten Eindrücke aus ihrer Kindheit, an die sie sich erinnern kann, stammen aus den Tagen nach der Reichspogromnacht. An jenem 9. November 1938 war sie dreieinhalb Jahre alt. An das genaue Geschehen jener Schreckenszeit, in der deutschlandweit Synagogen und jüdische Geschäfte in Brand gesteckt, Jüdinnen und Juden verprügelt und verhaftet wurden, kann sie sich nicht erinnern. Ihre ältere Schwester wird ihr später vom Rauch der brennenden Synagoge erzählen, der in die Wohnung drang, von den Schreien auf den Straßen. Ein Bild hat sich ihr aber eingeprägt: Die Stiefel der SS-Männer, die ihren Vater aus der elterlichen Wohnung verschleppten, während Mirjam, zusammen mit ihrer Schwester und ihrem Bruder, sich unter dem Bett versteckte. Das war wenige Tage nach der Reichspogromnacht. Ihren Vater hat sie nie wieder gesehen. Daraufhin wurden die Kinder nach Amsterdam geschickt.
Später, erzählt Mirjam, hat sie das Kinderheim, in dem sie untergebracht war, besucht, Berichte anderer, älterer Kinder gelesen. Bei einem Aufenthalt vor einigen Jahren fand sie im dortigen Archiv ein schwarz-weißes Foto von sich und ihrem Bruder, der diese Zeit nicht überlebt hat. Sie hält das Bild hoch, sodass Daniel und Oranit es sehen können: Verblüfft stellt man fest, wie sehr das kindliche Gesicht des Bruders dem gütigen Gesicht seiner heute 89-jährigen Schwester ähnelt. Als die Deutschen die Niederlande besetzten, wurden die jüdischen Kinder nach Eindhoven geschickt, von wo sie mit Booten nach Großbritannien in Sicherheit gebracht wurden. „Und der einzige Grund, weshalb ich weiß, wie ich heiße, wer meine Eltern waren, ist meine Schwester.“ Sie lächelt leise. „Mirjam Szpiro Bait Talmi. So heiße ich.“
Jahre später, bereits in Israel, wird sie vom Schicksal ihrer Eltern erfahren. Ihr Vater überlebte Auschwitz und wurde nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschickt, starb aber drei Wochen bevor die Alliierten sein Lager befreiten. Ihre Mutter verschwand im Ghetto Lodz, sie starb entweder dort oder in Auschwitz. Ihr Bruder, vom Kindertransport kränklich und schwach, starb kurz nach der Ankunft in Großbritannien.
„Wir waren kleine Kinder, und wir haben damals nicht geweint“
Vor der Tür wartet bereits Naftali Fürst. Während der Kameramann das Licht kontrolliert und das Produktionsteam laut auf Hebräisch den weiteren Tagesverlauf plant, ziert ein leises Lächeln sein ruhiges Gesicht. Auch später, während er von seiner Zeit in verschiedenen Konzentrationslagern erzählt, bleibt er ruhig, unaufgeregt. „Früher habe ich immer geweint, als ich meine Geschichte erzählt habe,“ sagt er auf Deutsch, „inzwischen muss ich nicht mehr weinen.“
Geboren ist Naftali 1932 als der jüngere von zwei Söhnen der Familie Fürst in der Nähe von Bratislava, in der heutigen Slowakei. Er erinnert sich an eine unbeschwerte Kindheit mit Ausflügen auf den Prater in Wien und in die Berge. Doch im Jahr 1938 verschlechterte sich im Zuge des Anschlusses Österreichs und des Zerbröselns des tschechoslowakischen Staates die Lage der slowakischen Juden. „In dieser Zeit begann für mich die Schoah“, erzählt Naftali auf Deutsch mit einem Akzent, der direkt aus der Zeit der kaiserlich-königlichen Monarchie vor dem 1. Weltkrieg zu stammen scheint. Im Jahr 1942 wurde Fürst zusammen mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder in das Konzentrationslager Sered geschickt. Von dort wurden viele Menschen nach Polen in die Arbeits- und Todeslager weitertransportiert. Die Familie blieb von einer weiteren Deportation nach Polen zuerst verschont, da der Vater als Holzfachmann einen gefragten Beruf hatte. 1944, infolge des Aufstands gegen das faschistische Regime der Slowakei, marschierte die deutsche Wehrmacht in das Land ein. Für Familie Fürst hatte das die sofortige Deportation nach Auschwitz zur Folge. „Von der Rampe in Auschwitz sind wir zusammen mit einer Gruppe in das Lager gekommen, in die Baracken in Birkenau“, erzählt Naftali. Dann blickt er auf, seine Augen suchen im Raum, er bittet um Wasser, nimmt einen Schluck. Der Raum ist vollkommen still. „Wir haben gesehen“, erzählt er ruhig, „wie die Flammen von den Öfen in den Himmel gehen.“ Die Familie wurde nach wenigen Tagen getrennt. „Wir waren kleine Kinder, und wir haben damals nicht geweint“, erzählt Naftali weiter. „Man hat uns voneinander getrennt, wir haben gehungert, aber wir waren so stark, dass wir nicht geweint haben.“ Dann zeichnet sich doch eine Art Verwunderung auf sein Gesicht: „Es ist doch nicht normal, dass Kinder nicht weinen.“ Er überlebte Auschwitz als Tischler- und Arzthelfer, bis die Kanonen der Roten Armee zu hören waren und der Befehl zu einem der sogenannten Todesmärsche kam, bei denen der Tod von Menschen in Kauf genommen, wenn nicht gar zum Ziel erklärt wurde. Naftali schaut auf: „Die leichteste Sache im Konzentrationslager war das Sterben. Das Sterben.“
Im Januar 1945 kam er mit seinem Bruder in Buchenwald an. Dort überlebte er dank des Untergrundkomitees, eines inoffiziellen Gremiums von Häftlingen im Konzentrationslager. Siebzig Jahre später hat er sich dafür eingesetzt, dass einer seiner Retter, der tschechische Kommunist Antonin Kalina, von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt wird. Nachdem Naftali Fürst am 11. April 1945 in Buchenwald befreit wurde, erfuhr er, dass seine Eltern sowie sein Bruder am Leben geblieben waren. Als einzige jüdische Familie in der Slowakei hat die Familie Fürst den Holocaust in Gänze überlebt . 1949 wanderten sie alle nach Israel aus.
Die Kraft des Erzählens
Susanne Ruth Raweh ist die letzte Gesprächspartnerin, sie kommt vor der verabredeten Zeit zum Interview, geht mit überraschend energischem Schritt durch das Zimmer, wo sie dem Interview von Naftali Fürst aufmerksam zuhört. Als sie sich vor die Kameras stellt, nimmt sie ein Buch mit, das sie selbst über ihre Zeit im Holocaust geschrieben hat. Ein Kinderbuch. Um die Geschichte des Überlebens für die kommenden Generationen festzuhalten. Geboren wurde sie 1938 in Bukarest in Rumänien, ihre Familie stammt aus Österreich, was man ihrem weichen Deutsch klar entnehmen kann. Das Interview möchte sie jedoch auf Englisch führen.
„1942 wurden wir von den Nazis nach Transnistrien verschleppt“, erzählt Susanne, „zusammen mit der ganzen, erweiterten Familie.“ Sie kann sich an vieles nicht erinnern, da sie noch ein kleines Kind war, das meiste weiß sie von Erzählungen anderer. Die Momente, in denen sie in Lkws gezwungen wurden, hat sie jedoch klar in Erinnerung. Die Familie durchlief mehrere Lager, genoss jedoch einen gewissen Schutz, da Susannes Vater Chirurg war und von den Deutschen schnell als Arzt eingesetzt wurde. Im letzten Lager, in dem man sie gefangen hielt, holte die SS regelmäßig kleine Kinder, kranke und alte Menschen. Eine Zeit lang konnte man Susanne verstecken, doch einmal war es schon zu spät – dachte sie. Im letzten Moment wurde sie vom Lagerkommandanten gesehen und vor dem SS-Transport gerettet. „Dr. Grube“, sagt Susanne, „so hieß er. Er war kein Nazi, nicht bei der SS. Er war Ingenieur, hat Straßen und Brücken gebaut. Und doch waren wir seine Sklaven. Sklaven.“ Kurz vor dem Ende des Krieges konnte der Vater einen rumänischen Offizier bestechen, der die Familie in Sicherheit brachte, die bis in die späten 1950er Jahre in Rumänien blieb, um dann nach Israel auszuwandern.
Jahre später, da war Susanne bereits Großmutter, sagte ihre Tochter: „Uns hast du die Geschichte deines Überlebens nie erzählt. Schreib sie bitte auf, sodass zumindest meine Kinder, deine Enkel, sie kennen.“ Das Buch, das daraufhin entstand, wurde in mehreren Sprachen veröffentlicht. Und 2019 wurde Susanne von Isabel Grube, der Enkeltochter jenes Dr. Grube, gefunden, die die Geschichte ihrer Familie erforschte. Die beiden wurden Freundinnen und veröffentlichten gemeinsam, in Zusammenarbeit mit einem Illustrator, ein weiteres Buch: „Zwei Menschen. Il Ponte“ ist ein Comicroman, der zuerst in Italien erschien. „Denn das Erzählen“, betont Susanne, die seit vierzig Jahren Universitäten und Schulen in Europa und Israel besucht und von ihrem Überleben berichtet, „ist das, was mir Kraft gibt.“
Mahnung an die Gegenwart: „Die Menschheit hat nichts dazugelernt“
Mirjam, Naftali, Susanne haben überlebt. Sie sind nach Israel gekommen, haben dort Familien gegründet, Kinder, Enkelkinder, zum Teil Urenkel in den Händen halten können. Und nun?
„Wir sind die Letzten. Keiner wird diese Geschichten nach uns erzählen können“, sagt Mirjam Szipro Bait Talmi. Es ist ein Erzählen, das nicht nur der Erinnerung dient. Vor allem in einer Zeit, in der der Holocaust von einer Erinnerung zur Geschichte wird, in einer Welt, die durch Krieg, Gewalt und Extremismus gezeichnet ist. „Hass ist eine Sünde“, sagt Mirjam weiter. „Extremismus ebenfalls.“ Sie spricht vom 7. Oktober, von ihrer Erschütterung über den grassierenden Tod in Israel, in Gaza. „Wir alle haben das Recht auf Leben.“ Auch Naftali Fürst ist von der Gegenwart in Israel und Europa sichtlich erschüttert. Seine Enkelin überlebte den 7. Oktober mit ihrer Familie im Kibbuz Kfar Aza nur knapp. „Die Menschheit hat nichts dazugelernt“, sagt Naftali. Er seufzt schwer. „Lernt von der Vergangenheit. Schweigt nicht, wenn Unrecht geschieht. Man darf nicht neutral bleiben angesichts von Unrecht. Auch als wir im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden, gab es neutrale Menschen, die nur zugeschaut und nichts dagegen unternommen haben.“