Gastbeitrag von Marcel Reif: „Das Bemühen um Integration ist unglaublich wichtig“

25.01.2019 – Marcel Reif spricht auch auf Basis persönlicher Erfahrungen, wenn er die Notwendigkeit von Engagement für Toleranz und gegen Diskriminierung sowie einer lebendigen Erinnerungskultur unterstreicht. In seinem Gastbeitrag, der zunächst im DFL MAGAZIN (Ausgabe 12/18) erschienen ist, betont der Sportjournalist und Kuratoriumsvorsitzende der DFL Stiftung die gesellschaftliche Verantwortung und Wirkungskraft des Profifußballs – kurz vor dem „Erinnerungstag im deutschen Fußball“, im Zuge dessen DFL und Proficlubs am 19. und 20. Spieltag eine klare Botschaft senden: „!Nie wieder“

Von Marcel Reif

Als ich knapp acht Jahre alt war, kamen meine Familie und ich in Kaiserslautern an. Nach einer Reise meiner Eltern mit den Versuchen, sesshaft zu werden, von Polen über Israel nach Deutschland. Ich konnte so gut wie kein Deutsch, musste in der Schule in die Klasse der Sechsjährigen. Wenn es nach dem Lehrer gegangen wäre, hätte ich dort zwei Jahre bleiben sollen. Als Achtjähriger bei Sechsjährigen – das ist für einen jungen Menschen die Hölle. In dieser Zeit ging es mir so schlecht, dass die konkreten Erinnerungen weitestgehend verdrängt sind. Ich weiß nur, dass meine Mutter mich klugerweise zum Fußball angemeldet hat, weil ich ganz gut kicken konnte. Beim 1. FC Kaiserslautern habe ich die Sprache gelernt. Erst mit den Beinen, dann mit dem Herzen – und schneller, als man es sich vorstellen kann, konnte ich Deutsch. Auf dem Fußballplatz. Und in der Schule. Deutsch zu sprechen – daraus habe ich letztlich meinen Beruf gemacht.

Dies ist keine Flüchtlingsgeschichte, wie wir sie heutzutage erleben, aber sie beschreibt gut, was Fußball leisten kann, um jemanden zu integrieren, der sonst womöglich sehr verloren wäre. So habe ich es erlebt: Fußball hat mir das Leben gerettet. Denn für einen jungen Menschen ist es existenzbedrohend, wenn man die Sprache nicht kann, nicht teilnehmen kann, mit viel Jüngeren in einer Klasse sitzen soll. Ich habe über viele Jahre gekickt. Und ich habe stets erlebt, wie die Grenzen von Sprache, Herkunft, sozialem Stand völlig nichtig wurden, wenn wir auf dem Platz standen. Wenn dir jemand hilft, indem er dir das Tor des Jahres vorbereitet, oder du jemandem hilfst, wenn er den Ball verloren hat, dann ist es egal, wo er oder sie herkommt.

Gemeinsamer Talk beim DFL-Neujahrsempfang im Januar 2019: Marcel Reif, DFL-Präsident Dr. Reinhard Rauball und Moderator Patrick Wasserziehr (von links).

Das mag alles sehr politisch korrekt klingen, aber es ist so. Ich erlebe auch bei meinen drei Söhnen, wie die verbindende Kraft des Fußballs wirkt – indem ich spüre, dass der Sport, das gemeinsame Streben nach Erfolg, nicht mal im Ansatz Ressentiments aufkommen lässt. Auch vor diesem Hintergrund kann ich mich als Kuratoriumsvorsitzender sehr gut mit der DFL Stiftung identifizieren, deren Idee und Ausrichtung mir sehr nah sind. „Wir müssen jetzt mal Gutes tun“ – das rufen viele. Es ist wichtig, das mit Leben zu füllen und pragmatische Ansätze dafür zu finden, über den Fußball die richtigen Werte zu vermitteln.

Das Bemühen um Integration ist nach wie vor unglaublich wichtig – genauso wie eine lebendige Erinnerungskultur. Mein Vater, ein polnischer Jude, wurde von Berthold Beitz aus einem Zug gerettet, der ins Vernichtungslager unterwegs war. Daran, dass ich der Sohn eines Vaters bin, der den Holocaust überlebt hat, habe ich keine Verdienste. Aber ich komme aus einer Generation, die mit den Menschen, die diese Zeiten erlebt haben, noch vertraut ist. Zum Beispiel eben durch meinen Vater, der natürlich von diesen Erlebnissen geprägt war. Die heutige Generation kann natürlich nicht für Verbrechen vorheriger Generationen in Regress genommen werden, aber es ist wichtig, daran zu erinnern – immer wieder. Darüber zu sprechen, was damals war. Was gemeinsam dafür getan werden kann, dass so etwas nicht mehr passiert – nie wieder.

Marcel Reif gehörte im Frühjahr 2018 zu den Protagonisten von TV-Spots und Printanzeigen im Zuge der Initiative „Strich durch Vorurteile“ der DFL Stiftung, an der sich auch die 36 Proficlubs beteiligten.

Wenn ich höre, es reiche mit der Erinnerungskultur doch langsam einmal – das überschreitet für mich eine rote Linie. Insofern ist eine Initiative wie der „Erinnerungstag im deutschen Fußball“ und alles, was damit zusammenhängt, notwendiger denn je. Denn es gibt bedenkliche Tendenzen und Protagonisten, die glauben: „Wir haben es geschafft, wir sind fast wieder salonfähig.“ Aber: Nein! Das ist nicht so, und solange ich lebe, werde ich alles unterstützen, das dazu beiträgt, dass so etwas nicht salonfähig wird. Dass es keine Chance gibt, diese Tendenzen in der Gesellschaft zu manifestieren. Daher ist ein solcher Erinnerungstag unglaublich wichtig. Auch hier: nicht aus politischer Korrektheit und für den Applaus. Es geht nicht um moralische Befriedigung, sondern darum, aus Überzeugung dafür einzutreten.

Ich bin froh, dass der deutsche Profifußball als wichtiger Teil der Gesellschaft zum Beispiel durch die DFL Stiftung und durch Initiativen der Clubs schon lange die Verantwortung erkennt, seine Wirkungskraft, seine Strahlkraft und Wucht zu nutzen. Es gibt kein Vergessen, und derartige Tendenzen müssen im Keim erstickt werden. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Wenn der Fußball nicht dafür dient, vermeintliche Grenzen aus Religion, Hautfarbe, sozialer Schicht oder was auch immer aufzulösen – wer oder was dann?