Gegen das Vergessen: Ein Besuch des früheren Ghettos Theresienstadt
Text: Christian Paul
Manchmal trägt das Grauen Grau: ein historischer Bau mit einem markanten Türmchen, gelegen an einem großzügigen Platz. Bäume, irgendwo plätschert ein Wasserspiel. Die Sonne scheint. Es ist ein harter Kontrast zur dunklen Vergangenheit dieses Ortes. Hinter den tristen Mauern des Hauses in Terezín, Tschechien, in einer Zelle im Kellergewölbe, wurde Arthur Müller von den Nazis gefangen gehalten und gefoltert, anschließend seinem Schicksal überlassen. Müller war einer von insgesamt 155.000 Juden, die zwischen 1941 und 1945 im Ghetto Theresienstadt litten. Wie mehr als 30.000 andere auch überlebte Müller die Gefangenschaft nicht.
Die Gruppe, die das Gelände im September 2019, fast auf den Tag genau 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, erkundet, besteht aus rund 20 Personen, allesamt sichtlich berührt ob der beklemmenden Eindrücke: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Fanabteilungen von Clubs der Bundesliga und 2. Bundesliga sowie Mitglieder von Fanprojekten und der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS). Organisiert von der DFL Deutsche Fußball Liga, besuchen sie jenes Ghetto, das in der Nazizeit auf perverse Art als Vorzeigeobjekt galt, weil es den Anschein eines „jüdischen Siedlungsgebietes“ wahren sollte. Tatsächlich herrschten in dem völlig überfüllten Lager mit teilweise bis zu 58.000 Personen menschenunwürdige Zustände.
Inzwischen ist der Ort, der Ende des 18. Jahrhunderts als Garnisonsstadt mit großen Wallanlagen errichtet wurde, längst wieder bewohnt. Sauber gestrichene Häuserfronten wechseln mit eingefallenen Überbleibseln der NS-Vergangenheit. Während der Alltag für die etwa 3.000 Bewohner scheinbar unberührt weitergeht, bieten sich den Teilnehmenden der Gedenkstättenfahrt gespenstische Eindrücke. Ihr Hotel beispielsweise diente in der Besatzungszeit als SS-Kameradschaftsheim. Es ist diese Ambivalenz, die den Besuch für die Gruppe so anspruchsvoll macht – der Umgang mit einer weiteren Form des Nazischreckens, nachdem einige der Teilnehmenden bereits 2016 und 2017 die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau oder andere Orte besucht haben.
Das Vernichtungslager lauerte auch in Theresienstadt. „Dieser Ort war nur eine Zwischenstation. Es war die große Angst von jedem jüdischen Bewohner des Ghettos, nach Auschwitz verschleppt zu werden“, sagt Andreas Kahrs, Historiker an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er begleitet seit vier Jahren als Wissenschaftler die Gedenkstättenfahrten, ist schon seit 2011 für verschiedene Proficlubs, darunter auch Borussia Dortmund, regelmäßig im Einsatz. Gemeinsam mit Daniel Lörcher, Abteilungsleiter Corporate Responsibility beim BVB, und dem Fanforscher und Rechtsextremismus-Experten Robert Claus hat Kahrs die Reise nach Theresienstadt organisiert.
Finanziell unterstützt wurde sie mit Mitteln aus dem „Pool zur Förderung innovativer Fußball- und Fankultur“, kurz PFiFF, die die DFL seit 2014 für Projekte zur Verfügung stellt, die sich allgemein für eine positive Fankultur und speziell auch gegen Rechtsextremismus und Diskriminierung engagieren (siehe Hintergrund unterhalb dieses Textes). Bis Ende 2018 wurden 90 Projekte gefördert – immer mit dem Ziel, die Präventionsarbeit in den Clubs zu unterstützen, den Fanbeauftragten Mittel für ihr Wirken an die Hand zu geben und deren Arbeit weiterhin zu qualifizieren, so wie es die DFL etwa auch mit dem Zertifikatsstudiengang Fan- und Zuschauermanagement macht.
In den Workshops in Theresienstadt können die Teilnehmenden inzwischen von vielen eigenen Erfahrungen durch vergangene Bildungsreisen berichten. „Das inhaltliche Niveau in der Fanarbeit hat sich enorm entwickelt“, sagt Kahrs. Bisherige Projekte werden analysiert und reflektiert. Ratschläge ausgetauscht. Der Blick auf persönliche Biografien wie jene von Hermann Horwitz, dem ehemaligen Mannschaftsarzt von Hertha BSC, der in Auschwitz starb und dessen Schicksal Fanbeauftragte mit einer Gruppe Fans recherchierten, helfen, die Monstrosität der Naziverbrechen zumindest etwas greifbarer zu machen – und Bezugspunkte zur lokalen Geschichte und der Vergangenheit des eigenen Clubs herzustellen.
Auch das Beispiel Theresienstadt verdeutlicht, dass die Nazis Juden aus nahezu jeder Region Europas deportierten, aus Deutschland zeugen davon Schilder und Tafeln nahe dem ehemaligen Krematorium – angebracht in stillem Gedenken an Opfer aus Berlin, aus Hamburg oder aus Wiesbaden.
Historiker Kahrs sieht in dem Engagement von DFL und Proficlubs wertvolle Bildungs- und Aufklärungsarbeit, auch über den Sport hinaus: „Es geht eine große Kraft aus, wenn der Profifußball vorangeht“, sagt er: „Es ist auch ein gesellschaftliches Signal.“ Die Proficlubs sind vielfältig engagiert, um sich gemeinsam gegen das Vergessen einzusetzen. Unter anderem gedenkt der deutsche Profifußball seit 2004 am „Erinnerungstag im deutschen Fußball“ jeweils rund um den 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, aller Menschen, denen die Nationalsozialisten grausames Leid zugefügt haben. Mit zahlreichen Aktionen senden DFL und Proficlubs dann alljährlich eine klare Botschaft: „!Nie wieder“.
Erst im März 2019 waren etwa 20 Mitglieder und Fans von Fortuna Düsseldorf im rund 60 Kilometer von Prag gelegenen Theresienstadt – auch durch PFiFF-Unterstützung. Helmut „Sonny“ Sonneberg, Fan von Eintracht Frankfurt, berichtete bei der Auftaktveranstaltung des Projekts „Frankfurt. Theresienstadt. Eine Spurensuche“, das die Fanbetreuung gemeinsam mit dem Eintracht Museum durchführt, von seiner tragischen Kindheit und Jugend. Sie war geprägt von Angst, Diskriminierung und Monaten im Ghetto, in dem die hygienischen Verhältnisse so ungenügend waren wie die Verpflegung – und in dem Krankheiten, Ungeziefer und Kälte zur Tagesordnung zählten. Jüngst kehrte Sonneberg nach über 74 Jahren erstmals an die Stätte seiner Deportation zurück – im Rahmen einer von der Eintracht-Fanbetreuung initiierten Gedenkstättenfahrt mit etwa 30 weiteren Teilnehmenden.
In den Vierzigerjahren war Sonneberg eines von rund 15.000 Kindern in Theresienstadt, genau wie Ruth Klüger, die 1942 als elfjähriges Mädchen mit ihrer Mutter deportiert wurde. Sie berichtet in ihrem 1992 erschienenen Buch „Weiter leben“ von ihrer Jugend, während der sie später noch in Auschwitz-Birkenau und dann in Christianstadt, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen, interniert war: „Ich habe Theresienstadt gehasst, ein Sumpf, eine Jauche, wo man die Arme nicht ausstrecken konnte, ohne auf andere Menschen zu stoßen. Ein Ameisenhaufen, der zertreten wurde. […] Nicht einmal im Klo war man allein, denn draußen war immer wer, der dringend musste. In einem großen Stall leben. Die Machthaber, die manchmal in ihren unheimlichen Uniformen auftauchten, um zu überprüfen, ob das Vieh nicht am Strick zerrte. Da kam man sich wie der letzte Dreck vor, das war man auch.“
Ihr gelang es, das Ghetto zu überleben, als einem von weniger als 1.000 Kindern dort oder in folgenden Lagern.
Hintergrund: Autor Christian Paul ist Chefredakteur des DFL MAGAZINS. Der Text ist zunächst in Ausgabe 6|19 des DFL MAGAZINS erschienen. Das DFL MAGAZIN ist auch als E-Paper für Smartphone und Tablet kostenlos verfügbar. Die App dazu kann im App Store (iOS) oder bei Google Play (Android) heruntergeladen werden.
PFiFF
Der „Pool zur Förderung innovativer Fußball- und Fankultur“, kurz PFiFF, wurde 2014 von der DFL Deutsche Fußball Liga ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Fußballfankultur weiter zu beleben und sich noch stärker in der Fanarbeit zu engagieren. Seitdem wurden mehr als 100 Projekte mit insgesamt etwa zwei Millionen Euro durch die DFL unterstützt, darunter auch Gedenkstättenfahrten in ehemalige Konzentrationslager als Teil der Präventionsarbeit gegen Antisemitismus und Rassismus.